Pause? Nein, danke! Mick Harvey

Mick Harvey, Motion Picture Music ‘94 – ‘05, 2006

harveymotionpicturesjpg.jpgWenn er wollte, könnte er jetzt tun, was Rocker sich im vierten Lebensjahrzehnt gerne leisten: eine Auszeit nehmen. Nicht so Mick Harvey. Nick Cave ist gerade auf einer gefeierten Solotour und wird kommenden März mit seinem Quartett Grinderman ein neues Album veröffentlichen. Bad Seeds-Termine sind nach hinten verschoben, das Warten verkürzt ab Januar eine opulente Live-DVD der Abattoir Blues Tour 2004. Caves Kollege lebt seit längerem wieder dort, wo alles begann, in Melbourne. Mit Frau und Kind, der Malerin Katy Beale und Sohn Solomon. Trotzdem käme er nicht im entferntesten auf die Idee, sich zur Ruhe zu setzen. Lakonisch versieht er seine Arbeit, sagt, wer der Meinung sei, eine Aufgabe zu haben, solle sie bitte auch erfüllen. Jetzt hat Harvey Motion Picture Music ’94 – ’05 veröffentlicht, eine Sammlung von Filmmusiken aus den letzten zehn Jahren. Dieser Tage tourt er durch seine alte Heimat. Damit nicht genug, hütet Harvey die Schätze der frühen Jahre. Beziehungsweise macht er sie neu zugänglich. Für satt.org hat er Zeit gefunden, per Email aus der Werkstatt zu berichten.

Das Lied zum Film

Ennio Morricone, Bernard Hermann und Miles Davis – es gibt gute Gründe, den Abspann solcher Klassiker wie Es war einmal in Amerika, Vertigo, Taxi Driver und Fahrstuhl zum Schafott bis zum Ende anzusehen. Filmmusik ist eine Kunstform für sich, und Harvey zählt die drei großen Namen ausdrücklich zu seinen Vorbildern. Carter Burwells Soundtrack zu Blood Simple, dem Erstlingswerk der Coen-Brüder, 1984 in die Säle gekommen, möchte er noch erwähnt sehen. Kurz darauf beginnt er selbst, für Dokumentar- und Fernsehproduktionen zu komponieren. 1989 dann, zusammen mit Blixa Bargeld und Nick Cave, der Soundtrack für Ghosts… of the Civil Dead, das abendfüllende Drama über die eskalierende Gewalt in einem australischen Gefängnis. Seither ist Arbeit für das Kino fester Bestandteil seines Schaffens, hat Harvey Dokumentationen, Low-Budget-Werke, Spielfilme und eine Produktion für Kinder veredelt. Sieht er einen speziellen Unterschied zwischen der Arbeit für eine Band, an einem Song, und der „Vertonung“ bewegter Bilder? „Der Unterschied ist nicht so gewaltig, wie es scheint. In Songs spiele ich meinen Part, in Filmen finde ich genauso schnell heraus, was ich beisteuern möchte. Nur, dass ich da mehr komponiere als arrangiere. Als ich anfing, Filmmusik zu schreiben, hatte ich den Eindruck, es sei stark mit dem verwandt, was ich sowieso bereits seit Jahren tat.“

Auf Motion Picture Music ’94 – ’05 sind die Stücke zu hören, die Harvey für einen Dokumentarfilm über den australischen Maler Tim Storrier geschrieben hat. Der, gebeten, seine Arbeit zu charakterisieren, sagt, Landschaft sei ihm „Hintergrund für ein Theater, das Bühnenbild für Reisen, Träume und Katastrophen.“ Lässt Harvey das auch für seine Musik gelten, oder hält er es für eine romantische Projektion, wie sein Kollege Warren Ellis? „Es ist schon sehr kühn interpretiert, andererseits hat natürlich die australische Landschaft unsere Musik in gewisser Weise geprägt. Storriers Position ist die eines Malers, aber mir ist schon klar, wie die Frage gemeint ist. Doch, ein verwandtes Element lässt sich schon in unserer Musik finden.“ Abwehren muss er freilich die Vermutung, das Personal der musikalisch betreuten Filme, Frank Hurley, der Fotograf des Antarktisforschers Ernest Shackletons, Mark ‚Chopper‘ Read, Australiens „populärster“ Gangster wie die Flüchtlinge in Rien Ne Va Plus, Besessene und Außenseiter in hoher Zahl, erlaube einen Rückschluss auf Affinitäten zu diesen Charakteren: „Nein, solche Verbindungen existieren nicht. Ich mag Liebesgeschichten, bloß werde ich nie gefragt, mich hinter solche Filme zu klemmen. Ob ich eine Neigung zu diesem oder jenem Charakter empfinde, ist irrelevant. Wichtiger ist mir, dass ich mit der Botschaft, dem Inhalt des ganzen Projekts etwas anfangen kann.“

Dass er es mit den hier versammelten Produktionen konnte, ist nicht zu überhören. Bei der Detailgenauigkeit und Akribie, mit der die einzelnen Stücke komponiert und eingespielt worden sind. Filmmusik hat nicht selten das Problem, außerhalb ihres Bezugspunkts Kino nicht mehr zu funktionieren. Diese hier tut es, ist atmosphärisch und verhalten, wo es angezeigt erscheint, und laut und schroff, wo es nötig ist. Bad Seeds-Afficiandos werden auf jeden Fall zugreifen, nicht zuletzt wegen The Farewell Song aus Wim Wenders und Lucian Seguras Roadmovie Go For Gold. Co-Autor und Sänger ist Nick Cave höchstpersönlich. Wer darüber hinaus Charlie Hadens und Pat Methenys Beyond The Missouri Sky oder Lost Horizon der Friends Of Dean Martinez, imaginäre Soundtracks beide, nicht mehr im Regal missen möchte, sollte dieser Sammlung Gehör schenken. Es lohnt sich.

Zweite Reihe war gestern

harveytreasure.jpgDreißig Jahre lang hat es Mick Harvey vorgezogen, sich als Arrangeur und Multiinstrumentalist für andere einzusetzen, ohne selber alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er sei ganz glücklich, nach wie vor unerkannt den öffentlichen Nahverkehr benutzen zu können, so seine Devise. Erst 2005 wagt er den Weg ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit One Man’s Treasure, seinem ersten „richtigen“ Soloalbum, sieht man von seinen beiden Serge Gainsbourg-Veröffentlichungen Mitte der neunziger Jahre ab. Er habe sich geschworen, nie mehr über die französische Ikone zu sprechen und verweist als Erklärung für seine Faszination auf Gainsbourgs absurden Humor und eklektisches Stilverständnis, wenn der Name unvermeidlicherweise doch noch fällt.

Kommt die Rede auf seine neue Band, wird er dagegen ausführlicher. Erinnert sich, wie er im Herbst vorigen Jahres erst in die neue Rolle als Bandleader hineinfinden musste, bis dann diesen Mai in Italien, Griechenland und Spanien alles stimmte. Von einer Offenbarung spricht er und meint: „Ich habe mich wohl gefühlt, Freude empfunden, auf der Bühne zu stehen und die Songs zu präsentieren. Eine wesentliche Rolle dabei spielte die Band – sie waren es, die es mir leicht machten, gut zu sein.“ Die Band, von der er spricht, sind: James Johnston an Orgel und Gitarre, seines Zeichens Frontmann bei Gallon Drunk und Mitbegründer von Bender, Bad Seeds-Schlagzeuger Thomas Wydler und Rosie Westbrook am Akustikbass. Nicht alle werden die Frau mit dem ungewohnten Instrument kennen: Westbrook, klassisch ausgebildet, ist eine von Melbournes bekanntesten Musikerinnen und sowohl mit Symphonieorchestern wie mit Spencer P. Jones (Beasts Of Bourbon) aufgetreten, Waves ihr Soloalbum aus dem Jahre 2003. Das Quartett wird bis Ende des Monats Australien bereisen und plant, mit Beate Bartel, Clare Moore und Julitha Ryan zum Septett aufgestockt, auf der Tour auch Stücke aus Wydlers Soloalbum Morphosa Harmonia und dem noch zu veröffentlichenden Soul Sheriff zu präsentieren. Glücklich, wer dabei sein darf!

Fester Bestandteil ihres Programms sind Coverversionen. Schon The Birthday Party waren bekannt dafür, Nick Cave & The Bad Seeds haben mit Kicking Against The Pricks ein ganzes Album voller Fremdmaterial eingespielt und auf Live Seeds Nina Simones Plain Gold Ring gecovert. Stichwort für Harvey: „Sie ist meine Lieblingssängerin, absolut. Sie hat eine ganze Masse ‚fremder‘ Titel gespielt. Überhaupt gehört das meiner Meinung nach zur Tradition des Songschreibens an sich, ist unter keinen Umständen eine zweitrangige Arbeit.“ Stichwort auch für eine Korrektur von dieser Seite: In der satt.org-Besprechung zum Berliner One Man’s Treasure-Konzert wird Demon Alcohol Conway Savage zugeschrieben. Fälschlicherweise – der Nachname auf der Platte meint nicht Harveys Kollegen bei den Bad Seeds, sondern Bambi Lee Savage, Songwriterin aus Denver und lange Zeit in Berlin lebend. Mick Harvey rät zur Gelassenheit: „Viele haben den Fehler gemacht, also kein Grund zur Sorge. Einige Kritiker meinten sogar, zwei der Songs würden Birthday Party-Material sein, da als Credit Birthday Party Publishing angegeben ist. Wenn eine Entschuldigung nötig ist, dann bei Conway und Bambi, nicht bei mir.“ Pardon, das nächste Mal genauer! Versprochen!

Der Tumult der frühen Jahre

Seit den frühen Siebzigern ist Harvey Musiker. Hat mit Umsicht und Understatement dafür gesorgt, dass bei The Birthday Party und in der Frühphase der Bad Seeds das Chaos nicht auf Kosten der Kreativität ging. Ansonsten ist hier nicht der Platz, sich an Legenden und Skandalen zu wärmen. Dafür gibt es Veröffentlichungen genug, nicht immer zur Begeisterung aller Beteiligten. Auf das damals Erreichte sei er immer noch stolz, betont Harvey. Allerdings: „Um ehrlich zu sein, hätte ich auf einige der Turbulenzen doch gerne verzichtet.“ Damit, was abenteuerlichen Umständen und langen Nächten abgetrotzt wurde, auch heute noch Hörer findet, kümmert er sich um das Vermächtnis der Birthday Party, hat dafür gesorgt, dass, so unwahrscheinlich die Notwendigkeit klingt, das Frühwerk der weitverzweigten Familie in Australien zu erschwinglichen Preisen verfügbar ist.

Gelegenheit, ihn nach einem weiteren Sammelgebiet zu fragen. Bis in die frühen Neunziger war Harvey zusätzlich Mitglied bei Simon Bonneys Crime & The City Solution. Wiederveröffentlichungen erfreuen sich zur Zeit großer Beliebtheit – wie stehen die Chancen für das Material der sträflich unterbewerteten Band, gerne in einem opulenten Boxset mit Archivmaterial und allem, was das Herz begehrt? „Wir hatten kürzlich gehofft, Stücke für eine Best Of auswählen zu können. Nachdem sich nicht jeder entscheiden konnte, wird Mute das Ganze wohl als Downloads zur Verfügung stellen. Das sollte dann auch das Material umfassen, das niemals auf CD erschienen ist. Ein Boxset mit den remasterten Alben wäre wahrscheinlich wirklich eine gute Variante. Nur, ob wir dazu jemals kommen?“ Sprichts und macht sich vermutlich wieder an die Arbeit. Sein Soundtrack zu Suburban Mayhem, einer schwarzen Komödie, ist für den Australian Film Institute Award Dezember 2006 nominiert worden. So sehr er sich über Anerkennung freut, so fühlt er sich auf den dazugehörigen Terminen fremd. Ein Nachfolger zu One Man’s Treasure ist anvisiert. Und Langeweile ein Unwort.

Porträt des Musikers als Hörer

Marc Almond, ‚Jacques‘: „Es ist schon eine Weile her, dass ich das Album gehört habe. Hat mir aber gefallen, als es erschienen ist.“

2006: „Ich höre eine ganze Menge, Aktuelles und Neuerscheinungen inklusive, aber wüsste ehrlich nicht, was nun genau dieses Jahr erschienen ist. Künstler, deren Platten ich momentan mag – da wären Will Oldham, Queens Of The Stone Age, viel von meinen australischen Freunden wie The Darling Downs. Wer noch? Mark Lanegan, Cat Power. Emmylou Harris‘ ‚Stumble Into Grace‘ (2003) ist wunderbar. Zur Zeit auch eine Menge klassische Musik.“

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